Der Einsatz von Persönlichkeitstests im Rahmen der Personalauswahl und der -entwicklung erfreut sich zunehmender Beliebtheit. In einer aktuellen Untersuchung von Hossiep et al. (2022) mit 115 Organisationen aus der DACH-Region geben 75 % der befragten Unternehmen an, Persönlichkeitsfragebogen zur Personalauswahl und -entwicklung einzusetzen. Der Einsatz von wissenschaftlich soliden Instrumenten bietet für Auswahlverfahren eine hilfreiche und objektivierte Entscheidungsgrundlage. Auf dem Markt gibt es jedoch eine Fülle von Instrumenten, darunter auch Verfahren, die wissenschaftlich höchst umstritten sind und trotz kritischer Rezensionen weite Verbreitung finden. Doch wie ist es möglich, dass solche Verfahren Einzug in Rekrutierungsverfahren renommierter Organisationen und Unternehmen finden und wie können Entscheidungsträger dem entgegenwirken? Davon handelt dieser Blog.
Beginnen wir zunächst mit einem Selbstversuch:
Lesen Sie sich folgende Aussagen durch und stellen Sie sich die Frage, ob diese Beschreibungen auf Sie zutreffen:
«Manche Ihrer Hoffnungen sind ziemlich unrealistisch.»
«Sie sind in der Tendenz nach kritisch zu sich selbst.»
«Manchmal zweifeln Sie daran, ob Sie sich richtig entschieden haben.»
«Sie haben das Bedürfnis, von anderen Menschen geliebt und geachtet zu werden.»
Treffen diese Aussagen auf Sie zu? Sie stammen allesamt aus dem berühmten Experiment des US-Psychologen Bertram R. Forer, der seine Studierenden aufgefordert hatte, einen Persönlichkeitstest zu absolvieren. Anschliessend erhielten die Teilnehmenden als Rückmeldung eine vermeintlich auf sie zugeschnittene Persönlichkeitsbeschreibung. Tatsächlich erhielten jedoch alle Studierenden die identische Charakterbeschreibung, unter anderem waren darin die obigen Aussagen enthalten. Forer’s Studierende sollten beurteilen, wie stark die Aussagen auf sie zutreffen würden. Das erstaunliche Ergebnis: über 80 % der Teilnehmenden stuften ihr «individuelles» Profil als «sehr gut» zutreffend ein und schätzten die Qualität der Beschreibung als hoch ein. (Forer, 1949).
Der Barnum-Effekt
Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Betram R. Forer machte sich den nach ihm benannten Forer-Effekt zunutze, der oft auch als Barnum-Effekt bezeichnet wird. Er beschreibt die Neigung von Menschen, lediglich vage und relativ allgemeingültige Aussagen über die eigene Person als zutreffend einzuschätzen. Typischerweise werden bei der Formulierung von Barnum-Aussagen Grundbedürfnisse, Wünsche, Ängste und Ambivalenzen von Menschen aufgegriffen und mit einer Sowohl-als-auch-Aussage oder Mehrdeutigkeiten angereichert. Die Aussagen erhalten dadurch einen allgemeingültigen Charakter und werden quasi unwiderlegbar. So überrascht es nicht, dass Barnum-Aussagen insbesondere in Horoskopen oder beim Gedanken- und Handlesen von Zauberkünstlern:innen und Mentalis:tinnen erfolgreich Anwendung finden.
Ein weiteres verblüffendes Experiment zum Barnum-Effekt: Der französische Psychologe und Statistiker Michel Gauquelin liess ein astrologisches Persönlichkeitsprofil mit einer damals neuartigen Computersoftware für Horoskope generieren. Über eine Zeitungsannonce rekrutierte er 150 Personen, denen er dieses vermeintlich individuelle Horoskop mit Persönlichkeitsbeschreibungen zukommen liess. Auch hier handelte es sich in Tat und Wahrheit für alle Teilnehmenden um die identischen Textbausteine. In diesem Experiment betrugen die Zustimmungsraten (Wiedererkennung der Persönlichkeit und der eigenen Probleme) gar über 90 %. (Fun-)Fact: die verwendeten Geburtsdaten zur Erstellung des Horoskopes stammten vom bekannten Serienmörder Marcel Petiot, dem mindestens 27 Morde nachgewiesen werden konnten.
Der Barnum-Effekt in der HR-Praxis
Weniger amüsant ist die Tatsache, dass Barnum-Aussagen auch in verschiedenen Auswertungen von Persönlichkeitstests für die Personalauswahl zu finden sind. Kersting, Graulich und Bothe (2015) haben in ihrer Arbeit analysiert, ob und in welchem Ausmass Barnum-Aussagen in schriftlichen Reporten von 16 verschiedenen Persönlichkeitsverfahren vorkommen. Zwei unabhängige Rater scannten die Reporte der Persönlichkeitstest und stuften die Aussagen als Barnum-Aussage ein, wenn sie eine oder mehrere der folgenden Kriterien erfüllten:
- Die Aussage ist mehrdeutig/allgemeingültig.
z.B. «Hat ein eigenes Bild von den herrschenden Strukturen und schätzt Freiraum. Kann sich in der Regel dennoch einordnen» (Profilingvalues)
- Die Aussage nimmt einen Vergleich vor, ohne die Vergleichsgruppe zu benennen.
z.B. «Sie denken öfter als andere ans Essen oder planen ihre nächste Mahlzeit.» (Motiv-Struktur-Analyse, 2010)
- Die Aussage stellt eine floskelhafte Lebensweisheit dar.
z.B. «Seien Sie sich im Klaren, dass andere Menschen nicht unbedingt so reagieren, wie Sie es erwarten.» (Hogan Lead, 2011)
- Die Aussage erweist sich als Schmeichelei.
z.B. «Sie erkennen, dass wir alle Individuen sind und Ideen zu bieten haben.» (IMX, 2012)
Das Ergebnis: Die Rater haben in allen untersuchten Reporten Barnum-Aussagen festgestellt. Die untenstehende Abbildung zeigt auf, dass in einigen Testverfahren der Anteil an Barnum-Aussagen in den Gutachten bis zu 40 % betrug.
Zusammenfassend:
Die individuelle Aussagekraft dieser Phrasen tendiert gegen null und der Einsatz eines Verfahrens mit Barnum-Aussagen hat im besten Fall «nur» unnötige Kosten verursacht. Wird ein solches jedoch als Basis für Selektionsentscheide oder Personalentwicklungsmassnahmen eingesetzt, können die Folgen für den Karriereweg der selektierten Personen, aber auch für die Organisation, einschneidend sein.
Einige der in Abbildung 1 aufgeführten Verfahren belegen laut der Studie von Hossiep et al. (2022) vordere Plätze in den meisteingesetzten Persönlichkeitstests. Dies führt uns zur Frage, wie es möglich ist, dass solche Verfahren auf eine breite Anwendung in der Praxis stossen?
Wenn Entscheidungsträger:innen dem Barnum-Effekt unterliegen
Die Anbieter solcher Verfahren nutzen die Unerfahrenheit der Entscheidungsträger:innen bei der Einschätzung der Gütekriterien von Testverfahren geschickt aus. Statt wissenschaftliche Evidenz zum theoretischen Hintergrund, zur Normierung oder zur Validierung der Testverfahren zu liefern (was bei unseriösen Verfahren typischerweise fehlt), bieten sie den Entscheidungsträger:innen einen Selbstversuch zur Durchführung des Fragebogens an. Was dann folgt, überrascht nun nicht mehr:
Der bzw. die Entscheidungsträger:in liest sein/ihr «individuelles» Gutachten durch und ist von der Treffgenauigkeit begeistert. Er oder sie unterliegt dem Barnum-Effekt und der «Illusion der Individualität», wie es die Autoren der Analyse zu den Barnum-Aussagen in Gutachten sehr treffend beschreiben: «Einem Gutachten, das letztlich triviale Aussagen als individuelle Beschreibungen ausgibt, wird man immer ein hohes Mass an Gültigkeit zuschreiben. Gerade das, was die Anhänger der Fragebogen als Beweis ansehen – die Überzeugung, das Gutachten passe –, gilt den Kritikern als Anlass zur Skepsis.» (Kersting et al. 2015).
Was Sie als Entscheidungsträger:in dagegen tun können
Der Einsatz von Persönlichkeitstests in der Personalauswahl und -entwicklung kann – mittels wissenschaftlich fundierter Verfahren – einen wertvollen Beitrag zu einer objektiveren und nachhaltigen Entscheidungsfindung bieten. Insbesondere wenn die Ergebnisse in einem strukturierten Interview oder im Rahmen eines Assessments validiert werden. Das entscheidende Kriterium bei der Wahl eines Instrumentes sollte jedoch nicht eine positive Selbsterfahrung sein, sondern sich vielmehr an wissenschaftlichen Kriterien orientieren. In der Personaldiagnostik ist das zentrale Mass hierfür die Gütekriterien eines Verfahrens. Diese werden im kommenden Blogbeitrag eingehender beleuchtet. Für die Praxis empfehlen wir bei der Evaluation eines Persönlichkeitstests vorab folgende Fragen zu klären:
- Wird der theoretische Hintergrund des Verfahrens transparent gemacht und wird in der einschlägigen Fachliteratur dazu geforscht?
- Setzt die Durchführung und Auswertung eine Ausbildung in psychologischer Diagnostik voraus (mindestens einen Bachelor in Psychologie)?
- Lassen sich Testrezensionen (nicht vom Anbieter selbst) finden, welche das Verfahren auch kritisch beleuchten?
Wirbt das Verfahren/der Anbieter sodann mit unrealistischen Versprechungen (z. B. Nicht-Manipulierbarkeit des Verfahrens), sollten die Alarmglocken läuten.
Haben Sie Fragen zu Persönlichkeitstests, Assessment-Center oder Potenzialanalysen? Kontaktieren Sie uns für ein unverbindliches Beratungsgespräch via:
Eric Häusler
M.Sc. Psychologie UZH
Leiter Assessment Percoms AG
eric.haeusler@percoms.ch
+41 71 222 12 12
Quellen:
Forer, B. R. (1949). The fallacy of personal validation: a classroom demonstration of gullibility. The Journal of Abnormal and Social Psychology, 44(1), 118–123.
Gauquelin, M. (1979). Dreams and illusions of astrology. Prometheus Books.
Hossiep, R., Weiss, S., Netzer, M. & Hossiep, R. (2022). Personalauswahl: Typen-Tests noch immer weit verbreitet. Wirtschaftspsychologie heute. https://www.wirtschaftspsychologie-heute.de/personalauswahl-typentests-noch-immer-weit-verbreitet/
Kersting, M., Graulich, V. & Bothe, P. S. (2015). Das beschreibt mich und andere. Zum Barnum-Effekt am Beispiel von Gutachten zu Persönlichkeitsfragebogen. PersonalMagazin, 9/2015, S. 28-33.